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"Das Leben ist kein teilbares Gut". Gastbeitrag vom Philosophen Professor Dr. Wilhelm Vossenkuhl für aloys.news zum Thema "Triage" und "Dringlichkeit"

Professor Dr. Wilhelm Vossenkuhl in der Andechser Klosterkirche. Archivfoto: Alois Kramer

München – In zwei Sendungen für den Südwestrundfunk, die am Freitag, 25. Dezember, und am Samstag, 26. Dezember um 8.30 Uhr ausgestrahlt werden, geht es um das, was Menschenwürde ist und um das Verhältnis der Menschenwürde zum Lebensschutz. Es geht in der zweiten Sendung um die Frage, was getan werden kann, wenn zwei, drei oder mehr Menschen dringend Hilfe brauchen, aber die Mittel knapp sind. Es geht um das, was ‚Triage' genannt wird.

Mit diesen Fragen geht es auch um die Pandemie. Zum ersten Satz des Grundgesetzes, zur Unantastbarkeit der Menschenwürde, gibt es buchdicke Kommentare. Die Kommentatoren fragen, was das ist, die Menschenwürde. Ist sie ein Verfassungsprinzip, ist sie ein positivrechtlicher Anspruch jeder einzelnen Person, ist sie ein Moralprinzip? Was ist die Menschenwürde eigentlich?

Es scheint, als wüsste niemand genau, was sie ist. Sie erscheint wie eine Illusion. Manche sprechen von einer ‚Leerformel'. Die Frauen und Männer, die das Grundgesetz ausgearbeitet haben, berufen sich, was die Bedeutung der Menschenwürde angeht, auf Kant.

Deswegen ist es vernünftig zu prüfen, was Kant dazu sagt. Es geht um seine „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten" und dort um die zweite Formel des Kategorischen Imperativs „Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst". Wenn man diesen Imperativ versteht, versteht man, was die Würde des Menschen ist. Die Würde ist nicht, wie heute in der Rechtssprechung unterstellt wird, ein biophysischer Anspruch. Es geht nicht um die biophysikalischen Merkmale der menschlichen Person, also nicht um die Frage, ob menschliche Embryonen eine Würde haben und geschützt werden müssen. Das Verbot, Embryonen für die Herstellung von Stammzellen zu verbrauchen geht auf eine biophysische Auffassung der Würde zurück. Mit Kants Auffassung der Würde hat dies nichts zu tun.

Verbot der Instrumentalisierung

Das einzige Verbot, das indirekt mit der Würde zusammenhängt ist das Verbot der Instrumentalisierung der menschlichen Person. Wenn ich mein Leben beliebig verlängern will oder andere dazu überrede, ihr Leben mit medizinischen Mitteln zu verlängern, dann wird die Würde verletzt, weil damit die Person instrumentalisiert wird. Überlegen wir an einem Beispiel, wie die Würde verletzt werden kann. Nehmen wir die Frage, welcher Arbeitslohn meiner Würde entspricht oder sie verletzt. Es geht dabei um den Zusammenhang der Würde mit den Zwecken, denen ich folge. Kant kennt drei Arten von Zwecken. Die Zwecke, die einen Marktpreis haben. Die Zwecke, die einen Affektionspreis haben, also Zwecke des Geschmack. Und dann gibt es eine dritte Art von Zwecken, die Würde des Menschen. Sie scheint keinen Preis zu haben, gehört aber zum Verbund mit den anderen Zwecken. Kant nennt diesen Verbund „Reich der Zwecke". Dieses Reich steht dem Reich der Natur gegenüber. Wenn ich wissen will, welcher Würdeanspruch mit meiner Arbeit verbunden ist, muss ich fragen: „Was würde gegen meine Würde verstoßen?" Kant sagt, die Würde sei ein „innerer Wert", der Wert einer „Denkungsart". Wie komme ich von diesen Gedanken zum Wert meiner Arbeit? Gibt es Kategorische Imperative, die den Wert meiner Arbeit bestimmen? Solche Imperative können aus Maximen, also aus allgemeinen Regeln oder Normen gebildet werden. Kant bietet zwei passende Maximen an: Die Maxime des Vertrauens, dass man sich auf das, was jemand sagt, verlassen kann, dass man seine Versprechen hält. Die andere Maxime ist die des Wohlwollens. Beim Aushandeln des Marktpreises der Arbeit z.B. zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer sollten beide Maximen die Rolle von Imperativen spielen. Wenn die Imperative des Vertrauens und des Wohlwollens das Aushandeln bestimmen, entspricht das ausgehandelte Resultat der Würde des Arbeitnehmers, weil er nicht instrumentalisiert wurde. Den Wert der Arbeit gibt es nicht absolut, weil er von wirtschaftlichen Gegebenheiten abhängig ist und ausgehandelt werden muss.

Wenn es mir beim Aushandeln des Werts meiner Arbeit darum ginge, mein Einkommen zu maximieren, würde ich mich instrumentalisieren, um das Maximum zu erreichen. Ich wäre ein Sklave der Gewinnmaximierung. Offensichtlich können wir mit Kants Auffassung der Menschenwürde ganz konkrete Fragen beantworten, die sich in unserer Lebenswelt stellen. Es ist ein Fehler zu glauben, dass der innere Wert der Würde nichts mit den Werten zu tun hat, die in unserem Leben eine konkrete Bedeutung haben.

In welchem Verhältnis steht die Würde als innerer Wert nun aber zum Lebensschutz? Entscheidend ist, dass der Lebensschutz kein Selbstzweck wie die Würde ist. Es gibt nur einen Selbstzweck, und das ist die Würde. Und nur sie ist unantastbar. Das Leben ist nicht unantastbar. Jedes Leben ist antastbar. Durch Krankheiten, das Corona-Virus, durch Behinderungen. Es gibt viele Möglichkeiten, wie das Leben angetastet werden kann. Es wäre übrigens falsch zu meinen, dass der Lebensschutz für jede einzelne Person dasselbe bedeuten würde. Das Verhältnis zwischen Lebensschutz und Würde ist sehr eng, denn wir haben nur als Lebende einen Anspruch auf Würde.

Was ist zu tun, wenn die Mittel knapp sind?

Die Frage ist nun, was zu tun ist, wenn das Leben eines von zwei oder mehr Menschen nicht geschützt werden kann, weil die Mittel zu knapp sind. Wer soll als erster behandelt werden, wer als zweiter und so fort. Wer soll gerettet werden und wer nicht. Das wurde eben im Ersten Weltkrieg als „Triage" bezeichnet. Der Begriff bedeutet ursprünglich nichts weiter als „Aussortierung", zum Beispiel, wenn man die guten von den schlechten Bohnen trennt.

Die Frage, wer aussortiert werden soll, stellt sich bei uns noch nicht, weil wir genug Intensivstationen haben. Wenn diskutiert wird, nach welchem Kriterium wer zuerst behandelt wird, geht es oft um die Dringlichkeit. Dieses Kriterium enthält einen Vergleich. Etwas ist dringlicher als etwas anderes. Es geht immer um einen Vergleich. Wie kann die Frage beantwortet werden, für wen die Hilfe dringender ist? Es gibt zwei Möglichkeiten zu vergleichen. Man kann entweder Personen vergleichen, alte, junge, Frauen, Männer oder überlegen, bei welcher Person die Hilfe in medizinischer Hinsicht Sinn macht und bei welcher nicht oder nicht mehr.

Wenn wir die Menschenwürde ernst nehmen, ist die erste Art von Vergleich unmöglich. Es mag vielen einleuchten, dass die jüngere Frau dem älteren Mann vorzuziehen wäre. Da dieser Vergleich die beteiligten Personen instrumentalisieren würde, würde er die Würde verletzen. Die Dringlichkeit, nach der ein Menschenleben zu retten ist, sollte streng diagnostisch entschieden werden. Eine solche Entscheidung darf nicht von einem einzelnen Arzt oder einer Ärztin entschieden werden, sondern von mindestens zwei oder mehr. Der Imperativ, der einzuhalten ist, heißt: Niemand hat das Recht eine Entscheidung zu treffen, die zum Tod eines Anderen führt oder diesen Tod in Kauf nimmt. Dieser Imperativ gilt für den Lebensschutz und die Würde. Es gibt aber Leute, die „humanistisch" argumentieren und sagen: Es ist doch human, wenn man die junge Frau dem alten Raucher vorzieht und eine Entscheidung trifft, die für die Gesellschaft insgesamt besser ist. Für die Gesellschaft ist es doch besser, wenn man die Jüngeren den Älteren vorzieht. Diese Argumentation geht von einer falschen Vorstellung der Verteilung von Leben und Lebenschancen aus. Wenn das Leben ein teilbares Gut wäre, also ein Gut wie Geld oder Nahrung, könnte man so argumentieren. Derjenige, der Hunger hat, soll mehr zu Essen bekommen soll als der Satte. Nahrung ist ein teilbares Gut.

Die Verteilungsgerechtigkeit ist bei teilbaren Gütern anwendbar. Da das Leben aber ein unteilbares Gut ist, kann die Verteilungsgerechtigkeit nicht als Maßstab dienen, wenn nur eine Person von mehreren gerettet werden kann. Das Leben und die Würde sind unteilbar. Also muss man, was die Dringlichkeit angeht, wohl oder übel von der Verteilungsgerechtigkeit absehen und überlegen, was es heißt, unter Knappheitsbedingungen rein diagnostisch über das Leben und Sterben zu entscheiden. Ärzte, die sich dagegen wehren würden, würden gegen ihre eigene Standesethik verstoßen. Ärzte verfügen über das Wissen und die Erfahrung, auf die es ankommt, wenn solche Entscheidungen zu treffen sind. 


Wilhelm Vossenkuhl, geboren 1945, studierte Philosophie, Neuere Geschichte und Politikwissenschaft in München. 1972 Promotion zum Dr. phil. an der Universität München;1980 Habilitation. Von 1993 bis 2011 hatte Vossenkuhl den Lehrstuhl für Philosophie 1 an der LMU in München inne. Schwerpunkte: Praktische Philosophie und Handlungstheorie, Grundlagen der Ethik, Philosophie der Sozialwissenschaften, Theorie der Rationalität. Er ist heute emeritiert.

Bücher (Auswahl):

- Die Geltung sittlicher Einstellungen. Zum Verhältnis von Sitte und Ethik, in: J. Sautermeister (Hrsg.), Moralpsychologie. Transdisziplinäre Perspektiven, Stuttgart: Kohlhammer, 406-425

- Die Großen Denker: Philosophie im Dialog. Zus. mit Harald Lesch. Komplett-Media. 2011.

- Philosophie Basics. Piper. 2011.

- Die Möglichkeit des Guten: Ethik im 21. Jahrhundert. CH Beck. 2006.

Internet:

www.wilhelm-vossenkuhl.de

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