Überlebende Musikerinnen und Musiker aus den Konzentrationslagern haben am 27. Mai 1945 ihr Befreiungskonzert in St. Ottilien gespielt. Wir erinnern seit 2018 mit der Liberation-Concert-Reihe im Rahmen des Klassikfestivals AMMERSEErenade daran. Befreit sein heißt nicht unbedingt frei zu sein. Was bedeutet Ihnen persönlich Freiheit?
Knobloch: Ich habe im April 1945 meine eigene Befreiung erlebt und dabei genau gelernt, was Freiheit ist. Bis dahin hatte ich in zwölf Jahren jeden Tag meines Lebens in Angst verbracht. Das war nun vorbei.
Die Freiheit als Abwesenheit von existenzieller Angst habe ich seitdem genießen können. Umfassende Freiheit, die den Menschen sich voll entfalten lässt, braucht aber auch Sicherheit, das ist heutzutage leider wieder sehr deutlich sichtbar. Die Freiheit, als jüdischer Mensch ohne Angst jüdisch leben zu können, wird zwar immer wieder gefordert, und es wird auch viel dafür getan. Aber leider sind wir noch nicht so weit. Wichtig bleibt, dass wir alles tun, um zu erhalten, was wir haben. Es gibt nichts Tragischeres als eine Freiheit, die durch Unachtsamkeit, Feigheit oder schlichtes Desinteresse wieder verloren geht. Das hat es einmal gegeben, und das dürfen wir nicht erneut zulassen.
Freiheit, Toleranz und Wahrheit: Zu diesem Themen-Trio der erste Artist in Residence im Kloster St. Ottilien während eines zweiwöchigen Kompositionsaufenthalts künstlerisch gearbeitet. Welchem der drei Werte messen Sie heute besonderes Gewicht zu? Und warum?
Knobloch: Alle drei Begriffe sind wichtig, und gemeinsam tragen sie die demokratische Gesellschaft, in der wir zum Glück leben. Leider stehen alle drei auch genau deshalb gerade besonders unter Beschuss: Der Begriff Freiheit wird immer öfter durch die Feinde der Freiheit missbraucht, wenn etwa die Verbreitung von Hass unter dem Deckmantel der Meinungsfreiheit daherkommt. Die Wahrheit verschwimmt zwischen Desinformation und Lüge etwa in den Sozialen Medien, und Toleranz wird noch immer öfter gefordert als gewährt. Wenn ich mich entscheiden müsste, wo wir ansetzen, dann würde ich sagen: Wer glaubt, seine eigene Wahrheit zu besitzen, und Toleranz für entbehrlich hält, der zerstört die Freiheit. Ein Miteinander kann nur gelingen, wenn alle Mitglieder einer Gesellschaft dieselben fundamentalen Werte teilen und anerkennen.
Wie wird jüdisches Leben in etwa 20 Jahren in Deutschland aussehen, und was sind Ihre Wünsche hierfür?
Knobloch: Ich müsste lügen, wenn ich sagen sollte, dass ich mir nicht Sorgen mache um die Zukunft des jüdischen Lebens in Deutschland. Seit dem 7. Oktober 2023, dem mörderischen Überfall der Terrororganisation Hamas auf Israel mit über 1.200 Ermordeten und 260 Geiseln (von denen noch immer etwa 50 in der Gewalt der Terroristen sind), ist der Judenhass weltweit und auch bei uns regelrecht explodiert. Und im Bundestag sitzt eine rechtsextremistische und antisemitische Partei als zweitstärkste Kraft und größte Oppositionspartei. All das hat dazu geführt, dass Angst den Alltag jüdischer Menschen bestimmt wie seit dem Holocaust nicht mehr.
Von Normalität sind wir weiter entfernt denn je in der Geschichte der Bundesrepublik.
Es bedrückt mich, dass sich gerade auch junge jüdische Familien immer öfter fragen, ob sie hier noch eine Zukunft für sich und ihre Kinder haben. Wenn es hier in 20 Jahren noch jüdisches Leben geben soll, muss sich etwas deutlich ändern. Da ist vor allem die Politik gefragt. Die jüdische Gemeinschaft ist Teil der Gesellschaft. Dann müssen wir auch sicher und sichtbar leben können.
Zugleich setze ich große Hoffnung in die jungen Generationen. Sie sind selbstbewusst und gut ausgebildet. Sie sollen in 20 Jahren eigentlich die verantwortlichen Positionen bekleiden und die deutsch-jüdische Gemeinschaft lenken. Meine Hoffnung ist, dass sie das dann auch wollen, und dass die Umstände es noch zulassen.
Zur „Zukunft der Erinnerung": Wie können zeitgemäße, Empathie entwickelnde Formen der Erinnerung an den Holocaust für zukünftige Generationen aussehen?
Knobloch: Jeder junge Mensch muss seinen eigenen Zugang zur Vergangenheit finden, und die pädagogischen Konzepte müssen dafür Freiraum lassen. Natürlich braucht es auch Faktenwissen, und kein Schüler darf die Schule verlassen, ohne zu wissen, was Auschwitz war. Aber es kann nicht nur darum gehen, Ortsnamen und Zahlen zu vermitteln, sondern das Ziel muss sein, junge Menschen zur Verantwortung zu erziehen: Verantwortung zu erinnern, Verantwortung für Demokratie und Freiheit. Das kann über Zeugnisse von Überlebenden funktionieren, über Besuche in Gedenkstätten oder über persönliche, z.B. familiäre Zugänge der jungen Menschen. Diese Freiheit und Vielfalt muss auch der Lehrplan erlauben, und die Lehrer müssen sich dieser Aufgabe stellen. Erinnern ist schließlich kein Selbstzweck, sondern schafft Bewusstsein für den Wert von Demokratie. Und das ist heute so nötig wie selten.
Welche Erwartungen haben Sie an Politik und Gesellschaft zum Schutz und zur Unterstützung für jüdisches Leben in Deutschland?
Knobloch: Zum Schutz der Gemeinden wird sehr viel getan. Aber dass das nötig ist, erleben wir Tag für Tag. Der beste Schutz wäre die Normalität, nach der die jüdischen Menschen sich seit Jahrhunderten sehnen. Eine Voraussetzung dafür wäre, dass das Judentum, seine Tradition und Gebräuche, überhaupt erst einmal bekannter werden. Es gibt immer noch erschreckend viel Unwissen, das wiederum der ideale Nährboden für Vorurteile und Judenhass ist. Dagegen hilft Bildung sowohl in der Schule als auch im außerschulischen Bereich etwa in den Volkshochschulen. Dafür braucht es jede Unterstützung.
Dr. h.c. mult. Charlotte Knobloch, Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern
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