Dießen – Moment mal! Im Deutschlandfunk wurde der 50. Geburtstag von Disco doch schon 2020 gefeiert! War aber eigentlich verfrüht, denn Disco als internationale, musikalisch-kulturelle Massenbewegung, die unter anderem auch den DJ als Kulturikone nach oben spülte, gibt es erst seit 1973, dem sogenannten „Year of Disco." Disco-ähnliche Veranstaltungen hatte es selbstverständlich schon früher gegeben, aber nicht erst seit dem vom Deutschlandfunk gewählten Jahr 1970, als David Mancuso sein Loft in Lower Manhattan für musik- und tanzbegeisterte Freunde öffnete, oder seit 1971, als das „Firehouse", eine ehemalige Feuerwache in der Wooster Street, unweit von Manuso's Loft, zum „beliebtesten schwulen Tanzclub" in New York gekürt wurde. Das Wort „Discotheque" ist ja auch noch viel älter, da es auf die Zeit der deutschen Besatzung von Paris zurückgeht, als Schallplatten mit tanzbarer Musik, auch Jazz genannt, nur heimlich und diskret abgespielt werden konnten. Disco, als Umschreibung eines Komplexes bestehend aus Musik, Tanz, Mode, sexueller Befreiung, internationaler Beliebtheit (Disco Fever; Discomanie) und der damit verbundenen Wirtschaftskraft, gibt es jedoch erst seit, oder schon, seit 50 Jahren. Im Zeitalter einer medial extrem durchgestalteten Musikwelt, in der zum Beispiel pro Woche um die 100 000 neue Musiktitel allein bei Spotify hochgeladen werden, ist daher ein Moment des Innehaltens mehr als geboten.
Das zu diesem Essay gewählte Bild zeigt nicht Abba, nicht Donna Summer, und auch nicht den aus dem Film „Saturday Night Fever" bekannten Schauspieler John Travolta. Zu sehen ist hier der jüngst verstorbene DJ Ted Currier, auch aus New York, Geburtsstätte und Hauptstadt von Disco zugleich. Bevor er als Plattenproduzent bei EMI/Liberty Records und als Remixer Karriere machte, war er als Radio DJ bei WKTU (dessen Slogan „Disco 92" auf Curriers T-shirt steht) und WBLS tätig, und wurde dadurch Bahnbrecher für eine Musik, die vor 1973 noch relativ schwer zugängig war. Ins Loft musste man eingeladen werden, und auch das nahtlose Aneinanderreihen von zueinander passenden Musikstücken (heute fest etabliert als „Mix") war mit Ausnahme einiger Tanzclubs in New York noch gar nicht de rigueur. Currier war einer der ersten, die den DJ Mix aus dem Club ins Radio mitnahmen und damit hohe Einschaltquoten erzielen konnten. Dadurch wurde er das Modell für spätere „Mixdance" DJs wie Shep Pettibone, Marley Marl oder Tony Humphries, die heute als DJ/Remixer Legenden gelten.
Der breite Erfolg von Disco in den 1970ern hätte sich ohne die Beteiligung von Radio und Fernsehen (Ilja Richter's gleichnamige ZDF Show - die musikalisch-inhaltlich wenig mit Disco zu tun hatte - wurde 2021 ebenfalls ein halbes Jahrhundert alt) wahrscheinlich nicht eingestellt. Ohne den Aufstieg des Club DJ zum Remixer und Plattenproduzenten hätte es dann auch nicht die Mix-CD gegeben, die wiederum als Pate der heute so verbreiteten mp3-Playlist verstanden werden kann. Wahrscheinlich hatten nur wenige Teilnehmer des jüngsten Christopher Street Day Umzugs in Berlin auf dem Schirm, dass die für den Umzug von DJs gespielte Tanzmusik ihre musikalischen und sozialkulturellen Ursprung in an der Christopher Street in Manhattan gelegenen Bar Stonewall Inn hat, wo es 1969 zu den heute legendären „Stonewalls Riots" kam, die wiederum den Grundstein für oben die erwähnten Parties im Loft und im Firehouse bilden. Verkürzt ausgedrückt ist das Erbe von Disco ein halbes Jahrhundert nach seinem kometenhaften Aufstieg immer noch unübersehbar und unüberhörbar zugleich. Was sagen dazu unsere Musiklehrer beziehungsweise deren Musiklehrbücher?
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